TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2047
Das unendlich komplizierte Leben der Leiche Ötzi
Luftige Geschichten müssen oft mit großem Ernst vorgetragen werden, damit die Leserschaft von jeglicher Schwerkraft befreit schließlich samt der Geschichte im Firmament des Gelächters entschwinden kann.
Gernot Werner Gruber lässt mit seiner Trilogie der Reanimation keinen Zweifel daran, dass es wissenschaftlich durchaus möglich sein könnte, was im Roman noch Kopfschütteln auslöst. „Das unendlich komplizierte Leben der Leiche Ötzi“ nimmt die Sehnsucht von uns allen, mit dem Ötzi in Augenhöhe in Kontakt zu treten, zum Anlass, um ihn in der Gegenwart zu erwecken.
Im Sinne eines Forscherromans oder Abenteuers aus der Wissenschaft tun sich ein pensionierter Pathologe aus der Ötzi-Museumsumgebung und ein russischer Geheim-Forscher zusammen, um der Ötzi-Leiche hinter der Glaswand des Museums auf die Sprünge zu verhelfen.
Die Vorgangsweise ist äußerst konsequent und logisch. Ötzi wird von seinem Double aus dem Museumskeller abgelöst und auf einen Berggasthof verfrachtet. Bei dieser Gelegenheit passiert eine kleine Panne, und der Stadtpolizist Charly Weger muss mitentführt werden. Während man nun den einen, der schon eingefroren ist, mühselig zum Leben erweckt, muss man den anderen abkühlen und scheintot halten.
Nach ein paar Fehlschlägen gelingt das Projekt und Ötzi springt durch die nächstbeste Fensterscheibe, weil er das Element Glas ja noch nicht kennt. Pathologe, Geheimforscher, Stadtpolizist und Ötzi treten alsbald als das wahnsinniges Quartett auf, besuchen Talkshows und unterhalten das Internet. Wenn Ötzi spricht, fängst das Publikum automatisch zu weinen an. „Ich bin Luh An und habe lange geschlafen.“ (173) Gegen solche Ur-Emotionen ist jeder machtlos.
Ob in einem SPA-Bereich als Nudist, auf wissenschaftlichen Seminaren, bei sommerlichen Tourismus-Events oder schlicht bei Grillabenteuern, Ötzi findet mit seiner unverbrauchten Art immer Anklang. Die Menschen spüren plötzlich die Gene der Urahnen in den Zellen vibrieren und haben ähnlich der Nahtod-Erfahrung eine Nah-Lebens-Erscheinung.
Der erste Teil geht allerdings abrupt zu Ende, die geilen Medien jagen Ötzi mit einem Helikopter in Medienechtzeit über den Gletscher, und er muss offensichtlich wieder so elendiglich sterben wie vor fünftausend Jahren.
Die Story ist natürlich bei genauerem Hinsehen ein Affentheater und riesiger Fake. Wenn man sich aber das Getue anschaut, mit dem heutzutage politische Botschaften, Geschäftsmodelle und Programme zur Verblödung der Menschheit ohne mit der Wimper zu zucken präsentiert werden, dann fühlt man sich für Stunden befreit, wenn man mit Ötzi über Jahrtausende hinweg Freundschaft schließen kann. Es entsteht so etwas wie ein versöhnlicher Schulterschluss des Humors.
Gernot Werner Gruber: Das unendlich komplizierte Leben der Leiche Ötzi. Band 1 der Trilogie Reanimo.
Bozen: Raetia 2017. 195 Seiten. EUR 17,90. ISBN 978-88-7283-606-4.
Gernot Werner Gruber, geb. 1969 in Meran, lebt im Passeiertal.
Helmuth Schönauer 27/07/17