Es war an jenem Tag, als Charly Weger beschlossen hatte über den Jordan zu gehen. So allein, wie er in der letzten Zeit gewesen war, so konnte es einfach nicht mehr weitergehen. Der Pathologe saß bei seinem siebten Glas Wein im Karma Lounge Café und hatte das unbestimmte Gefühl, dass jetzt wohl bald, was passieren müsse. Etwas Einschneidendes. Dimitri hatte sich seit Wochen nicht mehr gemeldet. Mehr noch: Er hatte nicht reagiert auf keine der vielen Versuche Kontakt aufzunehmen. Der Brite war sowieso von der Bildfläche verschwunden. Also wog der Pathologe ab, ob er nicht doch die Direktorin anrufen sollte. Das machte er dann auch. Ganz spontan. Aber leider ging sie nicht an ihr Handy. Und das wurmte ihn. Gerade heute, genau 3 Monate auf den Tag genau, als Luh von irgendwelchen Regierungsleuten gekidnappt wurde. „Drei Monate“, sagte der Pathologe nur für sich selbst und schüttelte den Kopf. So viel Zeit war vergangen, seit sie mitten in einem Abendessen allesamt betäubt und überwältigt wurden. „Und der Heilige Vater war auch dabei! Sogar den haben sie gemeinsam mit mir, mit Gas betäubt!“ rief der Pathologe zum Nebentisch, wo einige Männer saßen, die ihn schon öfter gesehen hatten in letzter Zeit. Schon öfter so gesehen hatten. In dieser Lebensstrandgut-Sammelstelle, die als Bar getarnt war, an einer der Ausfallstraßen Bozens. Einer der Männer grinste den Pathologen an, drehte sich dann zum Barmann um mit den Worten: „Geh, bring ihm noch ein Glas, er ist noch verwirrt.“
Mit mürrischem Gebrummel reagierte der Pathologe auf den Kommentar und winkte dem Wirt mit dem Zeigefinger ab.
„Genug für heute“.
Die Aktion des Tischnachbarn weckte seinen inneren Schweinsengel, der ihn zu mehr Contenance mahnte. Vielleicht waren es aber auch die Götter, an die er zwar nicht glaubte, die dafür umso mehr am Himmel rumorten. Selbst der Wirt unterbrach seinen gelangweilten Blick für eine Wetterdurchsage. Statt eines Gewitters brummte jedoch am Gehsteig vor der Bar, eine Ural Dnepr Baujahr 69, an deren Beiwagen ein Vatikan Stadt Kennzeichen geschraubt war. Der Fahrer stellte den Motor ab und kam zur Tür herein. Mit einer großen Gletscherbrille und auf dem Kopf einen Kaska SSH. Erst als er den Militärhelm abnahm und auf den Tisch des Pathologen knallte, nahm dieser wahr, was geschah. „Was saufst du?“ fragte der Russe wie in einem Verhör. Der Pathologe strahlte den Russen voller Wut an, während sich in seinen Augen Freudentränen sammelten. Er war sprachlos.
Dafür hatte Dimitri mehr zu erzählen. Davon, dass die letzten Wochen reinster Stress waren.
„So rein wie Wodka“ präzisierte Dimitri. Diese Erkenntnis bremste seinen Erzählfluss, weil es das Stichwort für etwas Interaktion mit dem Wirt war. Dimitri streckte zwei Finger in die Höhe, so als ob er einen Sieg zu markieren hätte. Was darauf folgte war ein langes Lamento über seine lange „Unterwegsigkeit“ die er nun satt habe. Wobei — gab er zu bedenken — die Sache nun wohl erst wieder richtig los gehe. Aber die Details müsse man aber anderswo besprechen. Wo mehr Privacy herrsche. Damit spielte er in einer für seine Verhältnisse extremen Eleganz, auf die Tatsache an, dass alle Gespräche in der Bar, auffällig lautem Lauschen gewichen waren.
„Wo warst du? Warum hast du dich nicht gemeldet?“ warf der Pathologe dem russischen Molekularbiologen vor, als ob die beiden verheiratet wären.
„Du sagst das, als ob du meine Frau wärst“ lachte Dimitri. „War hier und da“ legte er dann zum Beruhigen nach. Das Gespräch fiel, aufgrund Dimitris Unwillen Genaueres zu erzählen, natürlich auf den Rest der Freunde. Die Sorge um Charly Weger, dem ehemaligen Stadtpolizisten, machte beide etwas nachdenklich. Drei Monate verschollen zu sein, irgendwo in Palästina, seien eine lange Zeit für jemanden wie Charly der kein besonderes Talent für Orientierung besaß. Zudem hatte er keine Spur von Erinnerungsvermögen mehr, was in der Kombination durchaus als problematisch einzustufen war. Über diese Tatsache herrschte seltene Einigkeit beim Pathologen und Molekularbiologen.
Selbst Charly Weger war dieser Meinung über seine Orientierungsfähigkeiten, als er ziemlich genau in der Mitte des Flusses Jordan stand. Nur floss da gar nichts um ihn. Allein der eine oder andere Schweißtropfen suchte sich im Namen der Gravitation einen Weg mitten durch seine beiden Gesäßhügel. Rund um ihn war nur flacher Sand. Also entschied Charly doch wieder in die andere Richtung zu gehen, als in jene die er vor hatte.
„Wo der wohl hingeraten ist?“ seufzte einige tausend Kilometer entfernt sein Freund der Pathologe. „Der Brite wird ihn finden.“ Zuversichtlich hob Dimitri sein Glas dem staunenden Pathologen entgegen. Das Quäntchen Hoffnung, tränkten Beide mit dem letzten Wodka für heute. Man beschloss sich in das Wohnhaus des Pathologen zurückzuziehen. Der Pathologe setzte sich zwar widerwillig, aber schließlich doch in den Beiwagen und wenig später erreichten die zwei das gemütliche Heim, des ehemals nicht minder gemütlichen Pathologen im Ruhestand. Dimitri schnallte eine Blechkiste vom Motorrad und kaum in der Wohnung angekommen entfaltete er diese, drückte ein paar Knöpfe und das Gerät piepste kurz, was er mit schelmischen Grinsen beantwortete. Der Pathologe schaute dem Treiben mit einer entspannten Frage zu, die als Feststellung getarnt war: „Ich frage nicht was das soll.“ Dimitri gab ein Handzeichen, das Ruhe verlangte, schien eine weitere halbe Minute zu lauschen, schaute auf seine Uhr, um dann entspannt loszulachen. “Jetzt haben wir mindestens zwei taube Agenten mehr auf der Welt.“ Der Pathologe war nicht sicher richtig verstanden zu haben und hakte die Sache als typisches Dimitrigehabe ab.
„Also“, sagte der Russe darauf „willst du jetzt oder morgen früh backen?“
„Wieso backen?“
„Ja backen.“
„Kekse?
„Nein Sachen.“
„Was für Sachen?“ das Gesicht des Pathologen formte ein Häh.
„Deine.“
Das Häh blieb aufrecht.
„Zahnburste, Unterhossen und alles Sachen halt.“ Dimitri wusste zwar, dass der Pathologe keinen Alkohol vertrug, aber dass es so schlimm sei, ahnte er nicht.
Nachdem der Pathologe erkannte, dass er ein Opfer von Dimitris Sprachunschärfe im Deutschen geworden war, vergewisserte er sich kurz, ob man nun reden könne. Dimitri nickte gelassen.
„Also was ist dein, nein unser Plan? Und wo geht die Reise hin?“
„Lass uns setzen!“ forderte Dimitri auf und lies sich auf das Sofa fallen. Der Pathologe nahm eine Flasche Rotwein und Gläser aus dem Bücherregal und setzte sich dazu.
„Wir fahren in unser Hauptquartier. Wir haben endlich Spur, wo sie Ottsimann hingebracht haben.“ Dimitri hatte keine Chance weiterzureden.
„Wo ist er? Wo haben die Schweine ihn hingebracht?“
„Beruhige dich!“, der Russe unterstrich seine Botschaft, indem er dem Pathologen ordentlich nachschenkte. „In einem ehemaligen Ryks–Nervenanstalt in holländischer Pampa. Müssen aber noch endgültig verifizzerieren oder wie heißt.“