Bruder Luh

„Du hast das Ave Maria heute wieder wunderbar gesungen, Bruder Karl“, sagte der Abt süßlich. Charly Weger hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass man ihn hier im Kloster bei seinem Taufnamen rief. Das war zuletzt in der Pflichtschule so gewesen. Was wiederum viel zu lange her war, um sich zu erinnern. Gerade bei jemandem wie Charly Weger, der es seit einiger Zeit ganz und gar nicht mehr so recht mit dem Erinnern hatte. Aber der Freund an seiner Seite, den alle Bruder Luh An nannten, half ihm auch dieses Mal. „Schönes Ave“, sagte sein Kumpane und klopfte ihm zwischen die Beine. Charly Weger stoppte seinen Löffel kurz vor dem Mund, schluckte langsam und murmelte gelangweilt ein „Des Herrn Dank ist das spärliche Brot des armen Mannes“ in die Runde. Seine Worte zauberten den bärtigen Patres an der langen Tafel ein Lächeln ins Gesicht. Zu mehr Ablenkung von der Ursuppe war Charly im Moment aber nicht bereit. „Ihr seid heute genau ein halbes Jahr bei uns!“ Der Abt gab nicht auf. Er wollte die beiden Klosterbrüder, die aus der Menge der übrigen Klosterbrüder durch das Fehlen eines Bartes herausstachen, in ein Gespräch verwickeln. „Auch wenn man die Zeit halbiert, vergeht sie trotzdem“, sagte Charly Wegers Freund. Niemand ahnte, welch stolzes Alter er und seine Weisheiten in sich trugen. 5.300 Jahre war ein unglaubliches Alter und eine imposante Zahl. Fast genauso viele Sprüche und Aphorismen hatten die Mitbrüder in den letzten Monaten aufgeschrieben. Die Sprüche waren im Klosteralltag willkommen, um die monotonen Wiederholungen der schon zu oft gehörten Bibelverse durch völlig neue Perspektiven zu unterbrechen.

Darüber, dass Bruder Luh freiwillig den Kochdienst übernommen hatte, weil er die Speisen von Bruder Wilfried so gar nicht mochte, waren die anderen ordentlichen Ordensbrüder unendlich seelenfroh. Das lag nicht nur daran, dass Bruder Luh eine kleine, leise Revolution angezettelt hatte, die damit endete, dass der Abt eine Festanstellung als Abräumer, Abwäscher und Küchenputzfrau erhielt, sondern wohl auch an der täglichen Vorspeise. Die Ursuppe hatte es in sich. Bei den Zutaten vertraute Luh An, die ehemalige Gletscherleiche, auf jahrtausendealtes Wissen. Da war zunächst die Prunkrinde, die er zwischen zwei Steinen zermalmte und in die Suppe gab. Hinzu kam ein dunkler Saft von einer Konsistenz, wie man sie heute von altem Balsamico kennt. Der Sirup bestand aber aus Katzenminze, Eibennadeln, Wermut, Beifuß und Engelswurz. Besenginster und Schlafmohn machten die Suppe zu etwas Besonderem. Zu guter Letzt rührte Luh noch Stinklattich hinein und würzte mit Muskat und Habichtskraut. Es war eine Fülle an halluzinogener Botanik, die er mit seinem Gehilfen in den Wäldern rund um das Kloster sammelte. Charly Weger war sehr talentiert, um Luh An beim Aufspüren zu helfen. Das müsse wohl daherkommen, dass er früher schon beruflich einmal irgendetwas mit Schnüffeln gemacht hatte, war Charly überzeugt. „Was genau, weiß der …“, grummelte er vor sich. Luh wollte wissen wer. „So ein Dingstier zum Fliegen …“, erwiderte Charly. „Weiß der Geier, wie das heißt!“