Das hatte natürlich zur Folge, dass er sich erneut jede Nacht den Kopf zermarterte: „Haben wir alle Fragen geklärt? Gibt es etwas, das wir ganz zu Beginn hätten machen sollen und das den Lauf der Dinge verändert hätte? Habe ich in all den Jahren irgendet- was übersehen?“ Wie in Trance trommelte er diese Gedanken durch sein Gehirn. Als wäre es eine Treibjagd nach Erkenntnissen. Viele dunkle Hirnwinkel gab es da nicht mehr, in die er nicht schon unzählige Male hineingeschaut hätte.
Die Fortschritte der Genforschung, die hinzugekommen waren, inklusive der Sache mit den Stammzellen beschäftigten ihn vor allem in den ersten Wochen und Monaten seines Rentnerlebens, und da er noch äußerst fit für sein Alter war, ging er an den Fundort der Gletscherleiche und nahm Schnee- und Eisproben, systematisch, so lange bis er Reste einer aktiven Stammzellengruppe fand. Ein Blutstropfen hatte den Weg in eine tiefe Eisschicht gefunden und war dort in einer Vakuumblase schockgefroren. Bei den darauffolgenden Versuchen im Labor hatten nur drei dieser Zellen überlebt. „Nur mehr drei übrig …“, dachte der Pathologe, als sein Handy klingelte.
Dimitri stand auf dem Display. Der Pathologe spürte ei- nen Stich in seiner Leber, als wäre sie vor Schreck zusammengezuckt. Bevor er abhob, stärkte er sich noch rasch mit einem Bissen feinsten Apfelstrudels. Den holte er sich in der täglichen Rentnerroutine vormittags aus der besten Konditorei der beschaulichen Provinzhauptstadt.
„Towarischtsch, Genosse!“, begrüßte er in vollem Stimmvolumen den Anrufer.
„Dobraje utra“, antwortete der Moskauer Molekularbiologe.
Wieder zuckte die Leber des Pathologen, als wollte sie sich hinter den Nieren oder anderen Organen verstecken. Dimitri war ohne Zweifel sein größter Albtraum. Ein Jahrzehnt war es her, seit sich die beiden kennengelernt hatten. Der Pathologe und der Molekularbiologe hatten damals einen interessanten Austausch über die modernsten Konservierungstechniken am Beispiel des Eismannes und des deutlich rezenter verstorbenen Wladimir Iljitsch Uljanow, beide besser bekannt als Ötzi und Lenin. Der Tod des balsamierten Revolutionsführers hatte weder den Pathologen noch den russischen Molekularbiologen besonders traurig gestimmt, aber beide hatten damals schon darüber phantasiert, wie es wäre, wenn sie den Mann aus dem Eis wieder zum Leben erwecken könnten.
Stattdessen hatten sie in der Lobby eines 2-Sterne-Hotels einen anderen aufwendigen Versuch gestartet. Dabei ging es darum, den Verteilungsraum, also das Gesamtkörperwasser beider Herren auszuloten. Das spontane Untersuchungsde- sign sah vor, eine unbekannte Anzahl an 2-cl-Dosierungen eines in der Gegend stark verbreiteten Kartoffeldestillates zu resorbieren. Leider wurde vom Barkeeper, der ebenso spontan am Versuch teilnahm, die Anzahl nicht dokumentiert. Bald waren nur mehr zwei Organe in den nicht mehr aufrecht gegenübersitzenden Körpern aktiv und liefen auf Hochtouren. Sie oxidierten, was das Zeug hielt.
Was den Pathologen damals extrem verwunderte: Am nächsten Tag war Dimitri wieder fit, er steckte all das prob- lemlos weg, und obwohl er deutlich älter war, hatte er die Blut- und Leberwerte eines jungen Mannes, wie er ihm versicherte. Die Erklärung lieferte Dimitri beim fünften alljährlichen Follow-up-Meeting inklusive Versuchsreihe mit dem Kartoffeldestillat. Sein Gesundheitszustand sei der Tatsache geschuldet, dass Dimitri seit über fünfzig Jahren das mit seinem Professor entwickelte Belka-Strelka-Serum einnehme.
Dimitri war noch ein junger Student und mit seinem Professor in das Geheimprojekt Rettet Wostok 2 involviert gewesen. Nachdem drei Jahre zuvor der Weltraumhund Laika in der zweiten Kurve – sprich Erdumrundung – aus den Pfoten gekippt war, musste sich das Sowjetsystem mit allen Mitteln erst wieder neu beweisen.
So kam es, dass der junge Dimitri von seinem Professor zwangsverpflichtet wurde und sich mit ihm gemeinsam eines Nachts nichtsahnend im Institutslabor um neue Methoden zur Destillation samt Direktverkostung kümmerte. Weit nach Mitternacht hämmerte plötzlich jemand an die Tür. Mit einem Schuh. Als der Professor die Tür öffnete und einen ehemaligen Mitschüler desselben Jahrgangs vor sich stehen sah, traute er seinen Augen kaum.
„Nikita? Was machst du hier mitten in der Nacht?“
„Ich brauche deine Hilfe“, sagte der Mann und kam dem jungen Studenten Dimitri irgendwie bekannt vor. Der nächt- liche Besucher schien besorgt und begann darüber zu klagen, dass es nur noch drei Wochen bis zum Start der nächsten „behundeten“ Raumfahrtmission sein würden. Ein zweites Desaster mit einem allzu schnell verendenden Köter wäre ein Rückschlag. Dimitri hatte die Politik und deren Zusammenhänge nie wirklich verstanden, daher mochte er auch diesen Lenin nicht, um den er sich später zu kümmern hatte. Aber trotzdem klingelte es nun bei dem jungen Studenten. Während er sich weiterhin um den Überlauf kümmerte, versuchte er unbemerkt dem Gespräch zu folgen, das schlussendlich ins Stocken geriet: Der Professor kratzte sich am Hinterkopf und der Besucher zog sich, am Laborboden sitzend, den rechten Schuh wieder an.
Es waren nicht nur die kleinen Gesten großer Männer, die für diese Ruhe sorgten, sondern auch die pure Ratlosigkeit. Der oberste Funktionär der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken hatte sich den Kern des Problems von seinem Sohn, dem Raumfahrtingenieur Sergej, erklären lassen: Eine Erdumrundung bestehe – so hätten die Ingenieure herausgefunden – aus einer praktisch reinen Kurvenfahrt. Dazu seien aber Vierbeiner nicht idealtypisch geeignet, da immer zwei der vier Beine eine bereits andere Position im Kurvenradius erreichten als die beiden anderen.
Als Nikita Chruschtschow die Problemlage in groben Zügen ausgeführt hatte, brauchte der Professor einen frisch destillierten Wodka. Also tranken die beiden ein erstes Gläschen auf den traurigen Zustand des hiesigen Ingenieurwesens und die Unfähigkeit, das Kurvenschlingern einer Raumkapsel in den Griff zu bekommen, sowie die Erkenntnis, dass die Erde rund sei. Ein weiteres Gläschen tranken sie auf die Tatsache, dass der Kapitalismus wohl unweigerlich auf Dauer die Nase vorne haben würde. Beim dritten Glas widmeten sich die Herren der Frage, was denn nun am moleku- larbiologischen Institut um Weltalls willen machbar sei. Das vierte Gläschen sorgte für den entsprechenden Mut bei Chruschtschow, seine einfache Vorstellung der Dinge darzulegen: „Ihr müsst den Tieren was spritzen, damit sie, falls sie sterben sollten, zumindest nicht tot scheinen. Damit sie sich trotzdem bewegen, vielleicht mit dem Schwanz wedeln? Aber auf keinen Fall tot aussehen. Wenigstens für die Kamera.“
Es folgten drei Wochen intensiven Forschens im engsten Kreis, nur der Professor und sein Handlanger beim Schnapsbrennen. Da die Sache tunlichst nicht an die Öffentlichkeit und schon gar nicht an die Ohren ausländischer Geheimdienste gelangen sollte, war das Labor nach der freundlichen Verabschiedung Chruschtschows zum KGB-Sperrgebiet erklärt worden. Dimitri und sein Professor ernährten sich bis auf weiteres von Trockenfrüchten und Flüssignahrung aus dem Destillationsapparat. Gleich daneben bauten sie eine ähnliche Anlage, mit dem sie ein Serum herstellten, das später die Hunde – obwohl phasenweise klinisch tot – quietschfidel aussehen ließ.
Da Chruschtschow mit dem Ergebnis äußerst zufrieden war, wurden noch einige tausend Liter des Serums für das sportmedizinische Institut produziert, als Ausgleich für die Höchstleistungssubstanzen, die man dort herstellte und die einen beschleunigten Alterungsprozess auslösten. Dimitri schaffte sich bei der Gelegenheit einige Kanister beiseite, die er immer noch verwahrte und aus denen er seit damals täglich einen herzhaften Schluck zu sich nahm.
Leider hatte die hohe Geheimhaltungsstufe dazu geführt, dass keinerlei Dokumentation, auch keine Rezeptur der er- folgreichen Substanz angelegt wurde. Auch die beiden Wisenschaftler konnten sich aus irgendeinem Grund nicht mehr daran erinnern. Über den drei Wochen hing ein Schleier aus Kartoffeldestillat.
Und nun war er am Telefon, dieser Dimitri, und sprach mit dem Pathologen. Da Dimitri eine ausschweifende Art in der Kommunikation pflegte, genehmigte sich der pensionierte Pathologe noch ein Stückchen Apfelstrudel.
„Der Reddin hat endlich entdeckt das Molekuhlgen“, kam Dimitri zum entscheidenden Punkt des Anrufs, „… es steckt in Strudelwurmern.“
Dem Pathologen blieb der Bissen im Hals stecken. Er blickte auf den Apfelstrudel vor sich und legte die Gabel beiseite. Als er sich des Mundinhalts in einer Serviette entledigt hatte, konnte er dem ungeduldigen Russen endlich antworten: „Strudelwürmer?“
Das war das Stichwort, auf das Dimitri gewartet hatte, um loszudozieren. „Strudelwurmer haben multipotente Stamm- zehlen. Das bedeutet, die Stammzehlen des erwachsenen Strudelwurms haben Fähigkeit: alle Zehlarten ihres Körpers nachzubauen, also zu regenerieren. Und jetzt weiß der Ami- mann, wie das der Strudelwurm macht. Kann man nachmachen.“
„Das ist schön für die zwei“, antwortete der Pathologe, „für den Amimann und seinen Strudelwurm.“
„Nicht nur fur die zwei“, rief Dimitri in das Telefon, „auch fur uns und fur Kollegä Ottsi.“
„Ich muss aber nicht regeneriert werden“, sagte der Pathologe, schob den Teller mit dem Rest Apfelstrudel von sich weg und griff auf seinen Bauch.
Dimitri wurde laut: „Du doch nicht! Aber Kollegä Ottsi!“
Der Pathologe verstand, nahm sich eine halbe Minute Bedenkzeit und sagte schließlich: „Na dann komm her. Als Erstes müssen wir ihn da rausholen.
Fortsetzung Prolog
Die Entführung
Die Logistik
Die Logistik
Wieder hatte der Pathologe schlecht geschlafen, was aber in dem Fall von Vorteil war. So war er wenigstens rechtzeitig am Bahnhof. Normalerweise war er bei Zügen unerklärlicherweise immer unpünktlich.
Die halbe Stunde vor dem Eintreffen des Gastes nutzte er, um einen Plan zu schmieden. Und das ging in der Tat sehr langsam voran. Den Kollegen Eismann da rauszukriegen, würde nicht leicht werden. Die lokale Provinzregierung hatte um Ötzi herum nicht nur eine Hightech-Kühlzelle bauen lassen, sondern eine ehemalige Bank in ein komplettes Archälogiemuseum umgewandelt. Verteilt über mehrere Stockwerke und videoüberwacht. Während er sich über die Machbarkeit Sorgen zu machen begann, beobachtete er die Menschen am Bahnsteig und in den Wartesälen.
Kaum hatte er sich auf eine leere Bank niedergelassen, setzte sich auch schon eine eigenartige Gestalt zu ihm. Ein Mann, dessen kinnlanges Toupet im Farbton gar nicht zum Alter seines Gesichts passen wollte, obwohl das wiederum von einer unglaublich großen Sonnenbrille teilweise verdeckt wurde. Die Seitenbügel der Brille waren im selben Azurblau wie sein Jogginganzug aus den späten achtziger Jahren. Mit den rotweißen Streifen an den Außenseiten der Hosen und an den Ärmeln strahlte er den Charme des russischen Militärs … „Dimitri?“
Der Mann neben ihm hielt ihm sofort den Mund zu. „Keine Name in Öffentlichkeit.“
Der Pathologe gab seinem russischen Gast ein Zeichen, dass er verstanden habe. Als dieser seine Hand wieder herunternahm, wollte der Pathologe natürlich sofort wissen, was denn dieser Aufzug solle.
„Tarnung. Haben Illegales vor. So falle ich nicht auf.“
Dem letzten Satz konnte der Pathologe beim besten Willen nicht zustimmen. Er zog es aber vor, sich am heimatlichen Bahnhof auf keine Diskussion einzulassen mit einem fast Achtzigjährigen, grundsätzlich eher dogmatischen Ex-Sowjet-Wissenschaftler im Militärsportanzug, mit billigen überdimensionalen Dior-Sonnenbrillen und einer Damenperücke.
„Gut, lass uns gehen“, sagte der Pathologe zum Undercover-Gast. Der war einverstanden und bat um Hilfe beim Gepäck. Der Pathologe blickte auf einen kleinen schweinsledernen Koffer, der für jeden Billigflieger nicht. das Mindestmaß erreicht hätte. Als er ihn an sich nehmen wollte, schnappte Dimitri den Koffer und sagte: „Nimm du anderes.“
Etwas verwirrt stand der Pathologe da und musste erkennen, dass er nicht auf einer Bank gesessen hatte, sondern auf einer Metall-Transporttruhe. Dimitris eigentliches Gepäck. Wahrscheinlich aus demselben Armeebestand wie das Sport- dress.
„Was um Gottes willen ist da drin?“, versuchte er zu erfahren, als er die Truhe unter größter Anstrengung anzuheben versuchte. Der Richtung Ausgang schlendernde Dimitri unterbrach sein gutgelauntes Pfeifen eines sibirischen Volksliedes mit drei Worten: „Dies und das.“
Eine Viertelstunde später war es dem Pathologen gelungen, die Metallkiste aus dem Bahnhof hinaus und zum Wagen zu schleifen. Völlig außer Atem und mit einem festen Ruck ließ er die Kiste in den Kofferraum fallen. Schlagartig sprang Dimitri in ein nahes Gebüsch. Der Pathologe atmete mehrmals tief durch. Dimitri kam zum Wagen zurück. Er schien erschrocken.
„Du bist verruckt. Kann alles gehen in Luft!“
Der Pathologe drehte seine Augen in Richtung Stirnhöhle und sagte zum Russen, er solle sofort einsteigen. Er startete den Motor und wollte gleichzeitig wissen, was in der Kiste sei. „Ein paar Geräte und Instrumente, die wir brauchen für die Regeneration fur unser altes Freund“, führte er nun deutlich entspannter aus.
„Und was soll da bitte in die Luft gehen?“, bohrte der Pathologe nach.
„Na, passt er auf“, begann Dimitri darzulegen. Auch er hatte einen Plan: „Wenn wir Ottsi da rausholen, ist er weg. Merkt sogar ganz dumme Polizei. Also muss es im Museum eine Gasexplosion geben in Anlage von Kuhlzelle. Arme Wissenschaft. Gletscherleiche für immer verloren. Puff.“
Der Pathologe machte eine Vollbremsung, rund dreißig Meter vor einer grünen Ampel. „Du willst das Archäologiemuseum in die Luft sprengen? Hast du sie nicht mehr alle?“ Der Pathologe war außer sich.
„Hast du besseres Plan? Wenn nicht alle glauben, Leiche zerstört, wird man immer suchen armes Ottsimann.“
Der Pathologe fluchte irgendetwas in halb italienisch und dem hier üblichen Tiroler Dialekt und fuhr weiter. „Wir tauschen ihn aus!“, knallte er dem für seinen Geschmack etwas zu radikalen Russen hin.
„Tauschen aus?“, entgegnete Dimitri und begann, schallend zu lachen. „Tauschen aus?“, wiederholte er und lachte noch lauter. Sein Lachen ging nun über in ein Hecheln, so als würde er keine Luft mehr bekommen, bis er sich wieder fing und aus der Seitentasche des Jogginganzugs einen Flachmann zog. Er nahm einen herzhaften Schluck daraus und fragte den Pathologen: „Tauschen aus mit einem toten gegrillten Huhnchen?“
Sein Lachen steigerte sich noch mehr. Der Pathologe schüttelte den Kopf und sagte in einer kurzen Atempause des Russen: „Tokio 1999 – Die Mumienausstellung“.
Dimitri unterbrach sein Gelächter, drehte sich zum Pathologen, küsste ihn auf die Wange, hob seinen Flachmann an und sprach einen russischen Trinkspruch auf die „dummen Japaner“. Der Pathologe seinerseits war wenig erfreut über den feuchten Wodkafleck auf seiner Wange. Allerdings war er höchst zufrieden über die Tatsache, dass für die Mumienausstellung Tokio 1999 damals die Transport- und Versicherungskosten so hoch gewesen waren, dass man sich entschlossen hatte, ein täuschend echtes Imitat der Gletscherleiche anfertigen zu lassen. Dieses Imitat lag noch im Keller des Archäologiemuseums und ahnte nicht, dass es bald zum Primus Mortem aufsteigen würde, während zwei pensionierte Wissenschaftler mit einer noch nicht abgeklärten Menge an KGB-Spezialsprengstoff im Kofferraum in eine der beschaulichsten Wohnstraßen der Landeshauptstadt einbogen.
…